Der Jemen heute

Von Jemen hat jeder schon etwas gehört: von der mythischen Königin von Saba, vom Ursprung des Kaffees, von den Karawanen, die Weihrauch und Myrrhe vom Indischen Ozean zum Mittelmeer durch die Wüsten transportierten, von den Beduinen, den Stämmen der Wüstenbewohner, die noch heute das Bild und die Traditionen dieses wunderbaren Landes prägen.

Jemen - ein Land zwischen Asien und Afrika, begrenzt von zwei Meeren, dem Indischen Ozean im Süden und dem Roten Meer im Westen und der großen Wüste Rhub al-Khali im Norden und im Osten. Jemen – Land des Islam – arabisches Land – uralt besiedeltes Land, kultiviertes Land von der Küstenebene bis zu den höchsten Terrassen an den Steilhängen der Hochgebirge.

Land der Lehmbaukunst, der ersten Staudämme und Wolkenkratzer, höchster Baukunst mit nachhaltigen Kühl-, Belüftungs- und Beschattungssystemen. Land der verschleierten Frauen, die unter dem Druck von Tradition und Religion vom öffentlichen Leben abgeschnitten sind und ihr Leben großteils im Haus verbringen. Land der großen Königinnen Bilquis von Saba und Arwa bint Achmad, welche die Geschicke des Landes mythisch prägten.

Land der großen Gegensätze: Stämme gegen Zentralregierung, Imame gegen Demokratisierung und Verwestlichung, Männer gegen mehr Rechte für Frauen, religiöse Gruppen gegeneinander, Liberale für mehr Meinungsfreiheit, Straßenbau gegen Wegerechte der Stämme, Norden gegen Süden, Beduinentradition gegen Verstädterung, reich gegen arm, Freitagspredigt und Islamsender gegen Internet und KommerzTV, globalisierte wirtschaftliche Entwicklung gegen traditionelle Stammeswirtschaft, Kluften zwischen Männern und Frauen, zwischen öffentlich und privat.

Die Gegensätze prallen aufeinander, vor allem in den schnell gewachsenen Vorstädten, wo Landflüchtlinge aus Stammestradtionen auf westlich verstädterte Bevökerungsschichten stoßen Hinzu kommt, dass das Land an einer strategisch vorrangigen Position zwischen Unruhegebieten in Asien und Afrika und innerhalb der arabischen Staaten liegt und dass neue Öl- und Gasfunde Begehrlichkeiten allerorts auslösen. Im Kampf gegen den Terrorismus nimmt der Jemen eine problematische Position ein und muss zwischen den Fronten lavieren. Aus den Bürgerkriegsgebieten westlich des Roten Meeres flüchteten in den letzten Jahren bis zu einer Million Menschen, überwiegend Somalis, in den Jemen und fanden in diesem armen Land mit extrem hoher Arbeitslosenrate freundliche Aufnahme.

Die Geburtenrate ist eine der höchsten der Welt, jede Frau bringt durchschnittlich 6 Kinder zur Welt; extrem hoch ist auch die Rate der Analphabeten, insbesondere in der weiblichen Bevölkerung. Andererseits ist die Durchdringung mit elektronischen Medien, insbesondere Mobiltelefonen, weit fortgeschritten. Häufigster Beruf ist Fahrer, da es kein öffentliches Transportwesen gibt und die Distanzen groß, die Wege weit sind. Die Fahrkünste der Jemeniten in ihren Landcruisern und Sammeltaxis sind entsprechend staunenswert.

Was den Jemen heute stabil hält, ist vor allem das fest verankerte Konzept der Großfamilie, die patriarchalisch organisiert, wirtschaftlich, sozial und ethisch zusammenhält, die eigenen Normen streng kontrolliert und die Traditionen aufrecht erhält. Das Familiensystem ist es auch, das dieses vielen Zerreißproben ausgesetzte Land zusammen und in Frieden hält – trotz aller von außen und innen wirkenden Gegensätze und Spannungen.

Der Jemen ist ein spannendes Land. Der Fremde – und im Jemen fühlt sich jeder erstmals dorthin reisende Europäer zunächst sehr fremd – begegnet freundlichen offenen Menschen, die neugierig sind und ihn gern aufnehmen. Land und Leute führen uns vor Augen, wie wenig wir über Arabien, den Islam und die Probleme der arabischen Staaten heute sowie deren Sicht der westlichen Welt wissen. Und der Jemen öffnet sich denen, die mehr erfahren und lernen wollen, mit offenen Armen.

Was reizt uns im Jemen besonders – neben all den Kunstschätzen, der großartigen Landschaft und den imposanten Baudenkmälern: Vielleicht beeindruckt uns, die wir in der Überzahl Singles sind, das Funktionieren von großen Familienverbänden unter Verzicht auf individuelle Freiheit, die Fähigkeit zum Glück auch in großer Armut, Gleichmut und Unverdrossenheit auch in aussichtslosen Situationen, die Offenheit und Kommunikationsfreude, die Fähigkeit zu Improvisation und Chaosbewältigung. Vielleicht beeindruckt uns auch – die wir aus einer überalterten Gesellschaft zunehmender Vater- und Mutterschaftverweigerung kommen - die hohe Bedeutung von Vaterschaft und Blutsverwandtschaft in der jemenitischen Gesellschaft, in der über 50% der Bewohner unter 20 Jahre alt sind.

Alleinreisende Frauen werden im Land auf Respekt stoßen, zumal wenn sie die Regeln des Landes zu beachten versuchen. Und der Jemen ist für Frauen ein interessantes Forschungsgebiet, denn die Situation der Frauen ist heute dort so, wie sie in Mitteleuropa bis nach dem 2. Weltkrieg üblich war.Reisende Männer sind starken Restriktionen gegenüber jemenitischen Frauen ausgesetzt: Sie dürfen sie nicht ansprechen, sich nicht allein mit einer Frau in einem Raum aufhalten, sie werden nur in Ausnahmefällen jemenitische Frauen unverschleiert zu sehen bekommen, und sie dürfen sie keinesfalls ohne Zustimmung fotografieren.